Mit ungebrochenen Schwingen, 1979
gewidmet Walther von der Vogelweide (ca.1170-1230)
Für die Sendereihe „Telekolleg“ des SWF-Fernsehens
Ich saß auf einem Stein
und schlug Bein über Bein,
den Ellenbogen stützt’ ich drauf,
die Hand nahm Kopf und Wange auf.
Meine Gedanken flogen…
Refr.: Großer Poet, Walther von der Vogelweide,
swer des vergaeze, der taet mir leide.
Du bist, was deine Lieder sind –
mehr wissen wir nicht von dir, Poet.
Dein Leben erhellt Geschichte nur,
die im Historienbuch steht.
Wo Falschheit und Faustrecht regierten,
Unrecht den Hass gebar,
wo selbst die hohe Geistlichkeit
nicht immer edel war
und mit ewiger Verdammnis der Seele
Weib und Mann willfährig genarrt,
und deine Lieder – Brüder noch minneselig
im Süßholzraspeln verharrt’,
erkanntest du, singender Dichter,
und kamst mir scharfem Ton zum Gefecht:
Wo die Herrschenden im Streite liegen,
geht’s den Beherrschten schlecht!
Refr.: Großer Poet, Walther von der Vogelweide,
swer des vergaeze, der taet mir leide.
Heut’ hochgelobt, je nach Laune der Gönner
bei Hofe glänzend geehrt
und morgen verfemt und als Gesindel
schnöd vor die Tür gekehrt.
Auf Stellungssuche: Lebenslang
um die Gunst der Herren zu bitten,
da hat dir, Rechtloser, die Selbstzensur
das Dichten oft arg beschnitten.
Und doch schlug manch prassendem Herrn bei Tische
dein Singen auf den Magen –
denn setzte er dich ins Unrecht, hast du ihm deine Kunst
voll Zorn um die Ohren geschlagen!
Dieses aber hieß weiter zieh’n,
Wandervogel, und weiter singen
im nächsten Käfig der Abhängigkeit,
doch mit ungebrochenen Schwingen.
Refr.: Großer Poet, Walther von der Vogelweide,
swer des vergaeze, der taet mir leide.
Minnegesang: Die hêre Dame
in eisige Höhen zu dichten,
während schicksalsergeben der Sänger
sich schmachtend übt im Verzichten!
Du warst sie Leid zu besingen,
Frauen: stumm, gefühllos, keusch und gut.
Du gabst ihnen Sprache und zeigtest
auch sie waren aus Fleisch und Blut!
Sommerwonne und kuscheln und kosen
im kühlenden Schatten der Linde,
und gleich sein, ob Mann, ob Frau,
ob Herre oder Gesinde.
So hast du Mädchen von niederem Stand
zu hêren frouwen erhoben.
Wie sollten die feinen Leute dich
für solchen Misston loben?
Refr.: Großer Poet, Walther von der Vogelweide,
swer des vergaeze, der taet mir leide.
Im Herbst deines Lebens, als dir endlich ein Herr
das ersehnte Lehen gibt,
hat die neue Geborgenheit dir nicht den Sinn
für den Zustand der Welt getrübt.
Wohl vierzig Jahr’ gesungen, gerungen,
gelitten, gestritten, belacht.
Nicht hochgebor’n, hast du mit schmerzvoller Beharrlichkeit
deine Geschichte gemacht!
Ferner Sangesbruder Walther,
du wirst bis heut verehrt.
Wie tröstlich zu wissen, dass man solche wie dich
immer wieder hört!
Auf revolutionären Ton verstandst du dich nicht,
und trugst dennoch dazu bei,
in Menschen etwas in Bewegung zu bringen
mit Singen! Tandaradei!